
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2003
(st 3635)
130 Seiten
oder eine Katastrophe.
In meinem Kopf ist alles
möglich.“
Abgetaucht
Inhalt
Wie oft hatte sie hier gesessen und vergeblich auf ihn gewartet? Sie drehte das Gas ab, zog die dicke Jacke an, die Mütze über die Ohren und verließ das Haus. Es gab keinen Grund, den Mann zu dämonisieren. Die alte Geschichte nur, die es nicht mehr zu erzählen lohnt: verlassen, verloren, vorbei. Im Garten, der erstarrt lag unter dem Frost, den abgerissenen Stauden, den Wurzelstrünken und dem Aschhaufen, begann sie zu laufen. Lief auf der steilen Küste, immer das Meer im Blick, postkartenblau, und Schiffe, die darauf hinzogen, weil sie zum Bild gehörten. Abwärts lief sie auf dem Pfad zum Strand, rannte durch den Sand. Wie eine Gefangene, die sich erstmals frei bewegen kann.
– Die Strandläufern –
Eine Frau verlässt ihren Mann, flieht in die Einsamkeit am Meer – und macht eine unvorhergesehene Bekanntschaft. Ein Mann verschwindet aus seinem Büro, eine Studentin in der argentinischen Einöde, ein Tourist verfehlt sein Reiseziel. Menschen tauchen ab aus dem gewohnten Leben. Freiwillig. Unfreiwillig. Für Augenblicke. Für Stunden. Für immer. Nichts ist wie zuvor. Alles steht in Frage, kippt aus der Normalität. Im Spiegel: Ein fremdes Gesicht.
In zwölf kurzen Geschichten umkreist Bärbel Reetz Obsessionen und Sehnsüchte, die zu Fluchten führen. Unversehens verwandelt sich Alltägliches ins Geheimnisvoll-Phantastische und im scheinbar Normalen werden existentielle Risse und Brüche sichtbar, wie in Virginia oder die Gleichzeitigkeit. Da zieht Reetz uns in einem Akt der Beschwörung in eine Gleichzeitigkeit von Gegenwart und Vergangenheit, Leben und Sterben, gelingt es, das Nacheinander des Erzählens aufzuheben in völliger Simultaneität.
Alles geschieht gleichzeitig – die Geburt der Erzählerin und der Flußtod Virginias, der Luftkrieg Hitler-Deutschlands gegen England, das Bombardement von Bloomsbury und Coventry durch den Bomber-Piloten, den Vater der Ich-Erzählerin, die Wallfahrt der Erzählerin zu den Gedenkstätten der Woolf (…) alles geschieht zugleich (…) denn in der Literatur ist, das wissen wir, die Zeit außer Kraft gesetzt, herrscht Zeitlosigkeit gerade im raffinierten Spiel der Zeitebenen. So ist „Virginia oder die Gleichzeitigkeit“ ein bewundernswert dicht komponierter und vielschichtiger Text (…) Er hat viele schwere Theorie-Steine in der Manteltasche, aber bringt es fertig, trotzdem schwebend leicht zu bleiben. Es gelingt ihm, Virginias Tod in der Literatur aufzuheben. (Sigrid Löffler)
Pressestimmen
Egal, wo Bärbel Reetz ihre Geschichten ansiedelt, die meisten Figuren haben eines gemeinsam: Sie möchten sich aus der Umklammerung ihres Alltags lösen. Realität kippt bei Reetz plötzlich um ins Phantastische und umgekehrt. Verschiedene Zeitebenen und Erzählperspektiven werden ineinander montiert. So wird für Momente die Vergangenheit zur erlebten Gegenwart. Mühelos jongliert Reetz auch mit Versatzstücken verschiedener Genres, von der Liebesgeschichte, der Groteske über den Krimi bis hin zur Schauergeschichte. Die zwölf Geschichten verbindet die Sehnsucht, aus dem Gewohnten auszubrechen und etwas Neues zu beginnen.
Saarbrücker Zeitung / 18.05.2005 / Taschenbuch der Woche
Die Summe aus knapper, lakonischer Syntax und unsentimentaler, dabei so feinfühliger Seelenschau macht ihre Erzählungen so prägnant und fesselnd. Selbst die abstrusesten Reaktionen und Gedanken der ganz und gar nicht heldenhaften Helden von Bärbel Reetz erscheinen so nachvollziehbar, als stecke man selbst drin im geschilderten Leben.
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